Marianne Cohn (1922–1944)

Jüdische Fluchthelferin in der Résistance

Marianne Cohn, selbst Verfolgte des NS-Regimes, riskierte ihr eigenes Leben und verlor es als nicht einmal 22-Jährige auf grausame Weise. An der französisch-schweizerischen Grenze organisierte sie die Flucht jüdischer Kinder in die Schweiz. Ihr Mut steht beispielhaft für die vielen Jüdinnen und Juden, die – obwohl selbst der größten Gefahr ausgesetzt – Widerstand gegen die Nationalsozialisten leisteten.

Marianne Cohn wurde am 17. September 1922 als Tochter des Kaufmanns Alfred und der Nationalökonomin Grete Cohn, geb. Radt, in Mannheim geboren. 1924 kam die jüngere Schwester Lisa hinzu. Die Eltern verband eine lebenslange Freundschaft mit dem Philosophen Walter Benjamin. Der Briefwechsel zwischen ihm und den Cohns endete jedoch im September 1940 abrupt, als sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Portbou an der spanischen Grenze das Leben nahm.

Marianne Cohn besuchte in Mannheim den Montessori-Kindergarten, bis die Familie 1929 nach Berlin umzog, wo sie Grundschule und Gymnasium mit besten Zensuren durchlief. Alfred Cohn, inzwischen Mitinhaber einer Maschinenfabrik, bereitete bereits im Frühjahr 1934 die Flucht aus Deutschland über Paris nach Barcelona vor. Ab 1936 trieben der Spanische Bürgerkrieg und schließlich die Besetzung Südwestfrankreichs durch die Deutschen die Familie Cohn immer wieder auseinander. Die Töchter lebten zeitweise in Paris und in der Schweiz, die Eltern wurden als „feindliche Ausländer“ in das südwestfranzösische Internierungslager Gurs verschleppt. Schließlich wurde die Familie in Moissac (bei Toulouse) zwangsangesiedelt, unter dem Verfolgungsdruck der Nationalsozialisten aber erneut getrennt. Mariannes jüngere Schwester Lisa überlebte bis zur Befreiung im August 1944 in einem Versteck im Raum Toulouse. Die Eltern konnten sich, finanziell unterstützt von Marianne, im Grenzgebiet zwischen Italien und Frankreich verstecken.

In Moissac war Marianne Cohn in Kontakt zur jüdischen Pfadfinderbewegung gekommen, die sich im Widerstand betätigte, jüdische Kinder und Jugendliche in die Schweiz schmuggelte oder in Kinderheimen verbarg. Die junge Frau entwickelte nun ein neues Verhältnis zum Judentum und zur zionistischen Bewegung. Von Überlebenden wurde sie als intelligente und starke Persönlichkeit beschrieben. Mit falschen Papieren und unter dem Tarnnamen Marianne Colin spielte sie eine führende Rolle im jüdischen Rettungswiderstand. Es gelang ihr, rund zweihundert jüdische Kinder, deren Eltern interniert oder bereits deportiert waren, über die Schweizer Grenze und damit in Sicherheit zu bringen.

Am 30. Mai 1944 startete Marianne erneut einen Transport mit 32 jüdischen Kindern und Jugendlichen zwischen zwei und 18 Jahren. Wenige Kilometer vor der Schweizer Grenze kam es jedoch zu einer Kontrolle. Die Gruppe wurde in das nahegelegene Gestapo-Gefängnis in Annemasse gebracht und verhört. Auch die Kinder mussten die Brutalität der Gestapo erleiden. Jean Deffaugt, der Bürgermeister von Annemasse, konnte in Verhandlungen mit den Deutschen zunächst die Freilassung der Kinder unter elf Jahren erreichen. Elf weitere Jugendliche und Marianne Cohn blieben aber in Haft und mussten Zwangsarbeit leisten. Eine Möglichkeit zur Flucht lehnte Marianne Cohn ab, weil sie bei ihren Schützlingen bleiben wollte. Am 7. Juli 1944 gelang Jean Deffaugt mit der Freilassung der elf Jugendlichen eine erneute Rettungsaktion. Alle Kinder und Jugendlichen des letzten Transports von Marianne Cohn konnten später gerettet werden. Sie selbst wurde in der Nacht zum 8. Juli 1944 gemeinsam mit anderen Widerstandskämpfern vom deutschen Sicherheitsdienst (SD) in ein Waldstück bei Ville-la-Grand (nahe Annemasse) verschleppt und brutal ermordet.

Nach der Befreiung der Provence wurde am 23. August 1944 ihre von Folter gezeichnete Leiche entdeckt. Die endgültige Identifizierung musste ihre Schwester Lisa vornehmen. Am 26. September 1944 wurden die sterblichen Überreste Marianne Cohns in Grenoble beigesetzt.

Ihr Vater starb 1954 als gebrochener Mann, ihre Mutter 1979, ihre Schwester Lisa 1996. Keiner von ihnen kehrte nach Deutschland zurück. Dass es den deutschen Strafverfolgungsbehörden trotz jahrzehntelanger Ermittlungen nicht gelungen ist, die Mörder von Marianne Cohn vor Gericht zu bringen, ist eines der vielen Versäumnisse bei der juristischen Ahndung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik.

An den ungebrochenen Widerstandswillen und an den fast übermenschlichen Mut Marianne Cohns erinnert heute in Annemasse ein Gedenkstein. An der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ist ein 1982 von François Mitterand eingeweihter Garten nach ihr benannt. Mit Stolpersteinen wird sie in Berlin und Mannheim geehrt. In Mannheim trägt eine Straße, in Berlin eine Schule ihren Namen.


Download der Kurzbiographie (PDF)

Anregungen zum Weiterlesen:

  • LUSTIGER, Arno: Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Göttingen 2011.
  • SCHILDE, Kurt: „Geht die Arbeit weiter?“ Marianne Cohn – illegale Sozialarbeiterin in der Résistance, in: DERS. (Hrsg.): Jugendopposition 1933–1945: Ausgewählte Beiträge, Berlin 2007, S. 63–75.
  • SCHILDE, Kurt: Marianne Cohn – „dass sie sich absolut nicht für eine Heldin hielt.“ Eine Fluchthelferin aus Deutschland in der Résistance, in: Julius H. SCHOEPS/ Dieter BINGEN/Gideon BOTSCH (Hrsg.): Jüdischer Widerstand in Europa (1933–1945), Berlin 2016, S. 161–181.
  • URBAN, Susanne: Marianne Cohn (1922–1944) – eine Jüdin aus Mannheim rettete Kinder im besetzten Frankreich, in: Angela BORGSTEDT/Sibylle THELEN/Reinhold WEBER (Hrsg.): Mut bewiesen. Widerstandsbiographien aus dem Südwesten, Stuttgart 2017, S. 301–311.

Nach oben

Nach oben

Cookieeinstellungen
X

Wir verwenden Cookies

Wir nutzen auf unseren Websites Cookies. Einige sind notwendig, während andere uns helfen, eine komfortable Nutzung diese Website zu ermöglichen. Einige Cookies werden ggf. für den Abruf eingebetteter Dienste und Inhalte Dritter (z.B. YouTube) von den jeweiligen Anbietern vorausgesetzt und von diesen gesetzt. Gegebenenfalls werden in diesen Fällen auch personenbezogene Informationen an Dritte übertragen. Bitte entscheiden Sie, welche Kategorien Sie zulassen möchten.