Annemarie Griesinger (1924–2012)

Sozialpolitikerin und erste Frau im Landeskabinett

Beliebt, beherzt und umtriebig, so lässt sich die bemerkenswerte CDU-Politikerin Annemarie Griesinger beschreiben. 1972 wurde sie Sozialministerin im Kabinett des Ministerpräsidenten Hans Filbinger. Sie war damit die erste Frau überhaupt in einer baden-württembergischen Landesregierung. Das Sozialressort war der christlich-liberal geprägten Politikerin wie auf den Leib geschneidert.

Annemarie Griesinger, geb. Roemer, kam am 21. April 1924 als jüngstes von sechs Kindern und als einzige Tochter der Familie in Markgröningen zur Welt. Ihr Vater, der Theologe und Historiker Hermann Roemer, war nach 1945 Mitbegründer der CDU in Markgröningen. Mit Friedrich Roemer hatte die Familie einen führenden Politiker der 1848er-Revolution als Vorfahren. Annemaries Mutter Liesel Roemer hatte eine Hauswirtschaftsschule besucht und war vor allem an Bildungsfragen interessiert. 1942 legte Tochter „Ami“, wie sie liebevoll genannt wurde, das Abitur ab. Eigentlich wollte sie Schauspielerin werden, arbeitete aber zunächst als Fürsorgerin an einer Haushaltungs- und Sozialen Frauenschule. Es folgte eine Ausbildung zur Schwesternhelferin beim Roten Kreuz. Auch der Plan, Lehrerin zu werden, wurde durchkreuzt, weil sie in der Schweiz eine Tuberkulose-Erkrankung auskurieren musste. An der Universität Basel konnte sie jedoch Vorlesungen bei Karl Barth und Karl Jaspers hören. 1950 begann Annemarie Griesinger schließlich eine Ausbildung zur Wirtschafts- und Jugendfürsorgerin an der Sozialen Frauenschule des Schwäbischen Frauenvereins in Stuttgart. 1953 heiratete sie Heinz Griesinger. Während er studierte und später Ausbildungsdirektor bei Bosch wurde, arbeitete sie von 1956 bis 1964 als Kreisfürsorgerin beim Landratsamt Ludwigsburg. Die Ehe blieb kinderlos.

1956 trat Annemarie Griesinger in die Junge Union ein, 1958 in die CDU. Damit begann eine steile politische Karriere: Sie übernahm Vorstandsposten in der Jungen Union, in der CDU und in der Frauenvereinigung der CDU. 1961 kandidierte sie zum ersten Mal – noch erfolglos – bei der Bundestagswahl. 1964 rückte sie für Wilhelm Hahn in den Bundestag nach, als dieser zum Kultusminister von Baden-Württemberg ernannt wurde. 1965 und 1969 wurde sie in den Bundestag gewählt. 1969 gewann sie sogar das Direktmandat im Wahlkreis Ludwigsburg, der bislang eine SPD-Hochburg gewesen war. Mit diesem fulminanten Wahlsieg wurde sie Vizevorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion. Ein Kolumnist beschrieb 1970 ihr energisches Auftreten in Bonn:

„Sie macht den Eindruck, als ob sie den Himmel stürmen wolle.“

Als Bundestagsabgeordnete konzentrierte sie sich vor allem auf den Sport, die Landfrauen und die Modernisierung der bäuerlichen Hauswirtschaft. 1972 wechselte Annemarie Griesinger als Ministerin für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung nach Stuttgart. Im Landtag waren zu dieser Zeit gerade einmal drei weibliche Abgeordnete vertreten. Aber über den Fraktionsvorsitzenden Lothar Späth konnte die einzige CDU-Abgeordnete Renate Hellwig durchsetzen, dass eine Frau bei der Kabinettsbildung berücksichtigt wurde. Und die setzte Akzente: Ihr unermüdlicher Einsatz galt den Frauen im ländlichen Raum. Sie förderte den Ausbau eines flächendeckenden Systems von Diakonie- und Sozialstationen im Land sowie von Behindertenwerkstätten. Darüber hinaus führte sie ein auch in der CDU umstrittenes Familiengeld für nicht erwerbstätige Mütter ein und weitete die Hilfen für alleinerziehende Mütter aus. 1980 wurde sie im Rahmen einer Kabinettsumbildung von Ministerpräsident Lothar Späth Ministerin für Bundesangelegenheiten. Zunächst sträubte sie sich, ließ sich dann aber in die Pflicht nehmen und leitete als Bevollmächtigte des Landes die „Botschaft Baden-Württembergs“ in Bonn.

Von 1976 bis 1984 vertrat Annemarie Griesinger zudem den Wahlkreis Vaihingen/Enz im Landtag. Auch europapolitisch engagierte sie sich und saß von 1981 bis 1990 der Europa-Union Baden-Württemberg vor. 1984 zog sich die passionierte Jägerin und Sportlerin aus der aktiven Politik zurück, um Jüngeren Platz zu machen. Sie engagierte sich aber weiterhin vor allem in Vorstandsgremien von Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und sozialen Arbeit. Als Bundesvorsitzende der „Lebenshilfe“ setzte sie sich für Menschen mit geistiger Behinderung ein. Zusammen mit ihrem Mann rief sie eine Stiftung ins Leben. Von 1994 bis 1997 war sie auch Landesvorsitzende der Senioren-Union.

Annemarie Griesingers Politikstil wird als mütterlich und ausgleichend, aber durchsetzungsstark und resolut beschrieben. Geprägt war sie von Tatendrang, Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit. Ihre Zuwendung galt den Menschen im Land, vor allem jenen, die Hilfe brauchten. Das „Hauen und Stechen“ in der männlich dominierten Politik ihrer Zeit war nicht ihre Sache, wohl aber das Zusammenführen. Im Land unterwegs zu sein und den Menschen
zuzuhören war eine ihrer Stärken, und die Geselligkeit durfte dabei nicht zu kurz kommen, weshalb sie auch den Beinamen „Feschtles-Marie“ trug.

Annemarie Griesinger starb am 20. Februar 2012 im Alter von 87 Jahren in Bad Urach.

Der CDU-Kreisverband Ludwigsburg lobt ihr zu Ehren jährlich den Annemarie-Griesinger-Preis für außergewöhnliches bürgerschaftliches Engagement aus. In Gerlingen ist ein Wohnprojekt für Demenzkranke und Pflegebedürftige nach ihr benannt.


Download der Kurzbiographie (PDF)

Anregungen zum Weiterlesen:

  • GRIESINGER, Annemarie: Heidenei, Frau Minister! Lachen ist die beste Medizin, hrsg. von Martin HOHNECKER, Stuttgart 2006.
  • HOCHREUTHER, Ina: Frauen im Parlament. Südwestdeutsche Parlamentarierinnen von 1919 bis heute, 3. Aufl., Stuttgart 2012, S. 317–320.
  • MEYER, Birgit: Annemarie Griesinger – „Ich hatte nie Emanzipationsprobleme“, in: DIES.: Frauen im Männerbund, Frankfurt/M. 1997, S. 55–81.

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